Kaputtgart in Stuttgart

Ein Kommentar

Seit Sonntag Vormittag möchte ich kotzen. Im Strahl. Aber nicht, weil ich in der vorherigen Nacht Teil einer extrem alkoholisierten „Party-Event-Szene“ war. Es liegt mehr an dem Fetisch des deutschen Bürgertums, von rechtsradikalen Akteur*innen bis in das sogenannte links-liberale Spektrum hinein, nach einer solchen Nacht wie am 20.06.2020 in Stuttgart jeden Stiefel zu lecken, der sich ihnen anbietet. Eine Distanzierungswelle fegt wieder über das Land und greift schneller um sich, als das Covid-19 Virus je in der Lage wäre. Dabei wird der Fetisch vom schützenswerten Eigentum, zerstört von einem proletarischen (wahlweise auch migrantischen) Mob weit vor sich hergetragen und überlagert den wichtigen Diskurs über institutionalisierten Rassismus und Bullengewalt. Doch eines nach dem anderen. Was ist passiert?

Samstag Mitternacht wurde ein 17 Jähriger von Bullen auf Drogen kontrolliert. Laut Zeug*innen wollte dieser flüchten und wurde von ca. acht Bullen verfolgt und festgenommen. Es kam daraufhin zu einem Solidarisierungseffekt durch umstehende Passant*innen und es flogen die ersten Steine und Flaschen auf die Bullen. Daraufhin sollen etwa 500 Personen durch die Stuttgarter Innenstadt gezogen sein, Schaufensterläden eingeworfen haben und den Inhalt geplündert, Bullen attackiert (1) und diversen Streifenwannen die Glasscheiben entfernt, um für eine gratis Rundumbelüftung zu sorgen. Erst gegen 4:30 Uhr, als Bereitschaftspolizist*innen aus ganz BaWü angekarrt wurden, konnte die Situation wieder unter Kontrolle gebracht werden.(2)

Die Reaktionen darauf sind vorhersehbarer als das Wetter. Aus dem ganzen Land dringen Empörungsrufe. Dabei möchte ich auf die faschistischen Demagog*innen der AfD und Konsorten gar nicht so sehr eingehen, denn was diese zu solchen Szenen sagen und denken dürfte allen klar sein. Interessanter sind die Reaktionen eines Bundespräsidenten Steinmeier, eines Innenministers Horst Seehofers, einer SPD Bundesvorsitzenden Saskia Esken oder eines Cem Özdemir von den Grünen.(3) Je nach der eigenen politischen Ausrichtung fordert man in Abstufungen die ganze Härte des Gesetzes und eine Stärkung der Polizei. Alle genannten Akteur*innen haben eine grundsätzliche Verurteilung der Gewalt gemeinsam, die sich in erster Linie gegen Sachgüter und Polizist*innen gerichtet hat. Damit kommen wir zu einem sehr wichtigen Punkt.

Mit welchen Arten von Gewalt das deutsche Bürgertum ein Problem hat:

Das Lower-Class Magazine bringt es ziemlich deutlich auf den Punkt: „Derlei Gewaltdebatten entzünden sich stets an der Gewalt von Marginalisierten, an der Gewalt von „unten“ – und ganz besonders, wenn man meint „Fremde“ unter den „Gewalttätern“ ausmachen zu können.“(4) Abgesehen von dem ganzen rassistischen Scheiß der nun wieder grassiert, bekommt „Die Mitte“™ schnell Schnappatmung, wenn ein Auto brennt oder eine Fensterscheibe eingeworfen wird. Das führt sogar zu solch skurrilen Szenen, dass Seehofer persönlich nach Stuttgart fährt, um sich mit der beschädigten Bullenwanne fotografieren zu lassen.(5) Natürlich nachdem er eine Taz-Kolumnist*in angezeigt hatte, die einen satirischen Artikel über die Polizei veröffentlichte. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ein Innenminister 2016 Ladenbesitzer*innen Unterstützung angeboten hat, nachdem eine 200 Kopf starke Nazi-Hool-Truppe plündernd durch Connewitz gerockt ist. Ganz schlimm auch, dass während des Einsatzes der Polizei 19 Beamt*innen dabei verletzt wurden. Bei solchen Worten hat man schnell blutüberströmte Uniformen im Kopf, während es häufig nicht mal ein blauer Fleck ist.(6)

Mit welchen Arten von Gewalt das deutsche Bürgertum kein Problem zu haben scheint:

Unsere Gesellschaft ist geprägt von Gewalt. Natürlich unterscheidet sich die BRD in ihrer Quantität und Qualität von einem Kriegsgebiet, doch wer behauptet man lebe in einer gewaltfreien Gesellschaft tut dies aus einer sehr privilegierten Position heraus. Der vom Staat ausgehende Rassismus äußert sich nicht nur in der Geflüchteten-Politik, wenn ein Verkehrsminister Scheuer die Auflagen für private Rettungsschiffe so weit erhöht, dass diese fürs erste nicht mehr auslaufen können, ehe sie sich teure Nachrüstungen geleistet haben.(7) Die Konsequenz sind tote Menschen auf dem Mittelmeer. Ein Aufschrei? Außerhalb der linken Bubble kaum. Hat man sich doch an das Bild von ertrinkenden Menschen gewöhnt. Der institutionelle Rassismus äußert sich auch in dem Unwillen rassistische Polizeigewalt konsequent zu verhindern und zu verfolgen. Die Morde um Amad A. und Oury Jalloh sind genauso wenig aufgeklärt wie der Einfluss des Verfassungsschutzes auf den NSU. Das ist Gewalt. Auch Waffenexporte sind tolerierte Gewalt, die in andere Länder getragen wird. Es sterben auf der ganzen Welt Menschen durch deutsche Waffen. Auch sexuelle Belästigungen, Vergewaltigungen und Femizide gehören zum deutschen Alltag genauso wie die täglich stattfindenden „zufälligen Routinekontrollen“ migrantischer und nicht-migrantischer Jugendlicher. Woran man sich auch gewöhnt zu haben scheint sind die wöchentlich auftauchenden Berichte über neue Neonazi-Waffenlager und faschistische Strukturen in Geheimdiensten, Armee und Polizei. Zu guter Letzt die Gewalt durch die steigende Verelendung durch den Kapitalismus. Wer sich jeden Tag in einer aufreibende unterbezahlten Arbeit ausbeuten lässt, wessen Job wegrationalisiert wird, wer sich kein Dach mehr über den Kopf und etwas zu essen leisten kann erlebt Gewalt. Doch dieses System wird sowohl vom Großteil der politischen Entscheidungsträger*innen als auch von der Bevölkerung so gewollt und hingenommen.

Jetzt kommen wir langsam zum Schluss. Hier sei noch einmal das bereits oben erwähnte Lower-Class Magazin zu zitieren:

„Aber was heisst denn dieses Martin-Luther-King-Zitat, das alle kennen eigentlich?(8) Es heißt nicht: Fetischisiert jeden Riot, weil das ist so super geil – ein wenig die Kehrseite von dem linksliberalen Quatsch. Es heisst: Menschen, die jeden Tag getreten werden, auf dem Amt, in der Schule, auf Arbeit, Menschen, die jeden Tag von den Bullen getriezt werden, dann nach Hause kommen und sich noch von den Eltern anhören können, „was hast du wieder gemacht, Junge?“, weil an allem müssen sie Schuld sein, der Staat, der Chef, der Lehrer, die sind ja integer – diesen Menschen reicht es an einem Punkt. Das ist nicht hübsch und zielgerichtet. Im schlimmsten Fall richtet die Wut sich gegen Ihresgleichen. Im besseren Fall gegen ein paar Scheiben von McDonalds oder Autos der Polizei. Führt das zur Revolution? Nein. Sollten deshalb Leute, die 10 000 Euro als Abgeordnete einer Regierungspartei verdienen und schulterzuckend sagen, na mehr als drei Dutzend Kinder konnte ich leider nicht aus Moria in die Bundesrepublik holen, Lektionen über „Gewalt“ verteilen und gleichzeitig die Gewalt des Staates gegen diese Jugendlichen beschwören? Sicher nein.“

Bestimmt waren unter den 500 einige, die Gewalt zum Selbstzweck ausübten und sich an der Zerstörung berauschten. Doch dieser Angriff auf die staatliche und bürgerliche Ordnung war vor allem eines: Eine Reaktion auf die Gewalt, die man täglich erlebt und eine Wut die sich nun entladen hat. Eine proletarische Linke tut gut daran sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen, diese Wut in eine konstruktive Form zu organisieren ohne diese zu glorifizieren. Auf die bürgerliche Linke kann man sich hierbei nicht verlassen. Die entscheidet sich im Zweifel für die Gewalt von oben.

(1) Auf einem mittlerweile gelöschten Twitter-Video war unter anderem zu sehen, wie ein Riot-Cop eine junge Frau an den Haaren aus der Menge zog und sich auf sie kniete. Diese wurde jedoch relativ schnell von einem technisch eher unausgereiften Sprungkick eines Passanten von ihrer unfreiwilligen Zusatzbelastung befreit. Der gerüstete Beamte bekam daraufhin ein Pflaster mit Ferkelmotiven, um die geschundene Polizistenwürde zu versorgen.

(2) https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/krawalle-stuttgart-ausschreitungen-pluenderungen-polizei-randale-innenstadt/seite-3

(3) Dieser hat am 22.06.2020 ein Interview mit der Springer-Presse in Stuttgart geführt. Ein Passant hat das Interview kurzzeitig unterbrochen und auf die übermäßige Polizeirepression hingewiesen, die für die Ausschreitungen verantwortlich wären. Mehr als ein „Halten Sie bitte die Fresse. Wir sind hier in Deutschland!“ bekam der Grünen-Politiker daraufhin nicht zu Stande. Sätze, die auch von einem Pegida-Wutbürger stammen könnten. https://www.welt.de/politik/deutschland/article210059745/Randale-in-Stuttgart-Oezdemir-zu-Passanten-Halten-Sie-bitte-die-Fresse.html

(4) https://lowerclassmag.com/2020/06/21/stuttgart-wir-sehen-genau-bei-welcher-gewalt-ihr-schreit/

(5) https://www.merkur.de/politik/stuttgart-horst-seehofer-merkel-taz-anzeige-kolumne-satire-hengameh-yaghoobifarah-boehmermann-presse-zr-13806341.html Man munkelt er hätte im Anschluss die Angehörigen des Fahrzeugs besucht, um der Familie sein Beileid auszudrücken. Der mit der Bullenwanne liierte Twingo und die beiden Bobby-Cars hätten sich sehr über diesen Besuch gefreut.

(6) https://uebermedien.de/39624/die-polizei-als-unzuverlaessige-quelle/

(7) https://taz.de/Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5688110/

(8) Gemeint ist das Zitat: „A riot is the language of the unheard.“

Ein Gedanke zu “Kaputtgart in Stuttgart

  1. NoJusticeNoPeace

    Super Kommentar!
    Die meisten Menschen glauben sie leben in einer gewaltfreien Gesellschaft und durchs runterbuckeln kommt man an allem vorbei. Das dass nicht für alle gilt sollte jedem klar sein und sich alleine deswegen mit den Protestierenden mehr sympathisieren als mit der Polizei!!!

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